Coronavirus leert Kassen der Sozialversicherungen

Reuters · Uhr

- von Holger Hansen

Berlin (Reuters) - In den Sozialversicherungen werden die weitreichenden Folgen der Corona-Pandemie immer sichtbarer.

Bundesweit werden die Maßnahmen zur Eindämmung zwar allmählich wieder gelockert - aber das Virus frisst sich durch die Milliardenpolster, die sich Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung mit dem Beschäftigungsboom der vergangenen Jahre angelegt haben. Mit fast 100 Milliarden Euro an Rücklagen starteten die drei Versicherungszweige ins neue Jahr. Sie dürften aber durch Mindereinnahmen und Mehrausgaben infolge der Corona-Restriktionen dahinschmelzen. Am stärksten schlägt sich das bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) nieder. Deren Finanzpolster von 25,8 Milliarden Euro könnte sich binnen Monaten in ein Defizit von 5,3 Milliarden Euro umkehren, wie Reuters vorliegende interne BA-Berechnungen zeigen.

Krankenkassen und Wirtschaftsforscher schlagen Alarm: Ohne mehr Geld vom Steuerzahler oder Leistungseinschränkungen drohten 2021 höhere Beiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die erhoffte Konjunkturbelebung nach der Viruskrise könnte durch einen Kostenanstieg belastet werden. Deshalb werde spätestens im Herbst mit Finanzminister Olaf Scholz (SPD) über einen höheren Bundesanteil an der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu sprechen sein, forderte bereits die Chefin des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer, nach einem Gespräch mit Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Dieser gestand nach Angaben von Teilnehmern der Telefonkonferenz am Montag Handlungsbedarf zu, machte aber keine Zusagen.

SOZIALKASSEN ÄCHZEN UNTER MINDEREINNAHMEN UND MEHRAUSGABEN

Die Sozialversicherungen werden von zwei Seiten in die Mangel genommen: Geschäftsschließungen, Produktionspausen, Einschränkungen von Reisen und Kontakten lassen den Arbeitsmarkt einbrechen und sorgen für geringere Einnahmen. Allein für April bezifferte die BA den Corona-Effekt auf die Arbeitslosigkeit auf ein Plus von etwa 381.000. Schwerer wiegt für den Moment aber die Kurzarbeit. Sie sorgt nicht nur für geringere Einnahmen, sondern für rasant steigende Mehrausgaben. In ihrem düstersten Rechenszenario geht die BA intern von bis zu acht Millionen Kurzarbeitern in der Spitze aus. Das wäre fast jeder vierte sozialabgabenpflichtig Beschäftigte.

Hinzu kommen nicht nur für die BA, sondern auch für Krankenkassen zusätzliche Ausgaben, die ihnen vom Gesetzgeber auferlegt werden. Bei der BA sind es etwa die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes auf bis zu 87 Prozent des Lohnausfalls und die längere Zahlung des Arbeitslosengeldes I. Beides soll am Donnerstag vom Bundestag beschlossen werden und schlägt laut BA mit bis zu 2,9 Milliarden Euro zu Buche.

Die Krankenkassen ächzen unter coranabedingten Mehrausgaben, die ihnen bislang nur zum Teil vom Bund erstattet werden. In einem Reuters vorliegenden Positionspapier können sie ihren Mehrbedarf zwar nicht beziffern. Eine in Medien kursierende Zahl eines Fehlbetrages von 14 Milliarden Euro wurde nicht bestätigt. Aber die Krankenkassen fordern, den "erheblichen finanziellen Mehrbedarf" aus Steuermitteln zu finanzieren: "Ansonsten wären deutliche pandemiebedingte Beitragssatzanhebungen zulasten der Versicherten und Arbeitgeber die Folge, die mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes schädlich wären."

VIRUS-EFFEKT IN ZAHLEN BISHER KAUM SICHTBAR

Das ganze Ausmaß des Virus-Effekts für die Sozialkassen ist nur in Umrissen sichtbar. Im Gesundheitsfonds, der das Geld an die Krankenkassen verteilt, sind die Beitragseinnahmen im April nach Angaben des Bundesamtes für Soziale Sicherung im Vergleich zum April 2019 um etwa 5,4 Prozent oder rund 680 Millionen Euro gesunken - nach vorläufigen internen Berechnungen. Die BA verzeichnete im April etwa um 350 Millionen Euro geringere Beitragszahlungen als vor Jahresfrist. Und bei der Rentenversicherung gingen die vom Arbeitnehmerlöhnen abgezogenen Pflichtbeiträge von Februar auf März um rund 850 Millionen Euro zurück.

Die Rückgänge sind angesichts der monatlichen Ausgaben vergleichsweise gering. Alleine die Rentenversicherung zahlt monatlich etwa 23,6 Milliarden Euro an rund 21 Millionen Rentner aus. Bei den Krankenkassen belaufen sich die monatlichen Kosten auf etwa 21 Milliarden Euro. Doch die Höhe der Mindereinnahmen wird erst in den nächsten Monaten sichtbar sein, wenn Kurzarbeit und steigende Arbeitslosigkeit voll zu Buche schlagen. Die BA wird bei der Bekanntgabe der Arbeitsmarktbilanz für Mai am 3. Juni erstmals konkrete Zahlen zur tatsächlichen Kurzarbeit im März nennen können. Von den bis zu 10,1 Millionen Beschäftigten, die laut der bis Ende April eingegangenen Kurzarbeitanzeigen von 751.000 Betrieben betroffen sein könnten, dürfte die Zahl weit entfernt sein - der Großteil der Anzeigen ging im April ein.

"AUSZAHLUNG DER RENTEN IST SICHERGESTELLT"

Während die Viruskrise die Arbeitslosenversicherung sofort trifft, wird die Rentenversicherung eher mittelfristig in Mitleidenschaft gezogen. Die Auszahlung der Renten ist nicht gefährdet, und auch die beschlossene Rentenerhöhung zum 1. Juli steht außerfrage. Das unterstrich am Mittwoch auch Kanzlerin Angela Merkel im Bundestag: "Und ich halte nichts von den Vorschlägen, die sagen, das sollte man jetzt nicht machen."

Da die Rentenerhöhung der Lohnentwicklung des Vorjahres folgt, dürfte den Ruheständlern aber 2021 eine Nullrunde bevorstehen - sinkende Beschäftigung und Kurzarbeit lassen die Lohnsumme in diesem Jahr wohl sinken. Rentenkürzungen hat die Regierung in der Finanzkrise 2009 unter dem damaligen Arbeitsminister Scholz gesetzlich ausgeschlossen: "Ich stehe zu dieser Rentengarantie", sagte Merkel.

Noch im Mai will sich erstmals der Schätzerkreis der Rentenversicherung mit den längerfristigen Auswirkungen befassen, ob etwa in den nächsten Jahren der Beitragssatz schneller steigen müsste, um die Reserven aufzufüllen. Bislang verfügt die Rentenkasse über das dickste Finanzpolster in der Sozialversicherung: Sie ging mit 40,5 Milliarden Euro an Rücklagen in das Jahr. Die Behörde unterstreicht daher: "Die Rentenversicherung verfügt über einen ausreichend großen Puffer, um die Zahlung der Renten in jedem Fall sicherzustellen."

Angesichts drohender Löcher in den Sozialkassen zeigen sich selbst aufs Sparen bedachte Haushaltspolitiker bereit, mit Geld vom Bund Beitragsanhebungen zu verhindern oder zu mildern. "Wir müssen alle Sozialkassen durch mehr Steuergeld stützen", sagte CDU-Chefhaushälter Eckardt Rehberg dem RND. "Nur so können wir verhindern, dass die Beiträge auf breiter Front explodieren."

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