Immer mehr Kriegsversehrte - Doch Prothesen sind Mangelware in Ukraine

Reuters · Uhr

LONDON/KIEW/FRANKFURT (Reuters) - Unablässiger Artilleriebeschuss entlang der 1000 Kilometer langen Frontlinie und der häufige Einsatz russischer Raketen im ganzen Land: Der Krieg mit Russland fordert viele Opfer - Tote und Verletzte.

Auch die Zahl von Verstümmelungen und Amputierter nimmt deutlich zu. Doch Prothesen und Fachspezialisten sind Mangelware, ebenso wie die nötige Infrastruktur. Patienten müssen lange auf eine Versorgung warten.

Der 28-jährige Denys hat sein linkes Bein verloren, als eine russische Rakete 50 Meter von seiner Einheit in der östlichen Stadt Kramatorsk einschlug. "Mein Kamerad hinter dem Unterstand erlitt Schrapnellwunden und verblutete", sagt er. Dmytro Zilko kämpfte in einem Dorf bei Bachmut, wo die härtesten Auseinandersetzungen des Konflikts noch immer toben, als eine Granate in der Nähe landete. "Sie haben mir in Druschkiwka das Bein abgetrennt", erzählt der 22-Jährige. Beide Soldaten sind Patienten im Prothetik-Zentrum "Bez Obmezhen" in Kiew. "Leider hat die Zahl der Patienten erheblich zugenommen", sagt Klinikdirektor Andrii Ovcharenko.

Sowohl für Russland als auch die Ukraine sind militärische Verluste ein streng gehütetes Geheimnis. Die Anzahl der benötigten Prothesen gibt jedoch einen Aufschluss über die Ausmaße der Verletztenzahlen. Der weltgrößte Prothesenhersteller Ottobock etwa lieferte im zweiten Halbjahr 2022 rund doppelt so viele Fußprothesen wie im gesamten Jahr 2021. Vorstandschef Oliver Jakobi führte den Anstieg gegenüber Reuters auf den Krieg zurück. Auch Parashar Industries in Kiew stellte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres mit 7.000 Prothesenkomponenten so viele wie 2021 insgesamt her. "Das ist immer noch nicht genug", sagt Geschäftsführer Nagender Parashar.

FEHLENDE VERSORGUNGSINFRASTRUKTUR

Die Lieferung von mehr Prothesen reicht alleine jedoch nicht aus, um die Versorgung von Kriegsinvaliden zu gewährleisten. Das Problem liegt vor allem in der fehlenden Infrastruktur. Dazu gehören Versorgungsorte, die zum Teil zerbombt wurden, Kliniken, Werkstätten aber auch Orthopädietechniker und Physiotherapeuten. Die fehlenden Fachkräfte sind dabei die schwerwiegendste Engstelle, denn eine Prothese muss für jeden Patienten individuell durch einen Spezialisten angepasst werden - und davon gibt es in der Ukraine bedeutend zu wenig.

"Es gibt wirklich einen Mangel an Prothetikern, weil jeden Tag eine riesige Anzahl Menschen mit Prothesen versorgt werden muss", sagt der ukrainische Gesundheitsminister Viktor Liashko in einem Interview mit Reuters. In den neun Kliniken, die Nagender Parashar in der Ukraine besitzt, sind 25 Spezialisten angestellt. In den Kliniken Kiew und Lemberg wurden vor dem Krieg 20 bis 30 Patienten pro Monat behandelt, jetzt sind es dreimal so viele. Um das zu bewältigen, bräuchte er bis zu 75 weitere Fachkräfte, schätzt Parashar.

"Die Priorität liegt jetzt bei den oberen Gliedmaßen, die Spezialisten dafür sind überlastet", sagt Gesundheitsminister Liashko. In der Ukraine gäbe es rund 300 Prothetiker, Techniker und Auszubildende, aber nur fünf von ihnen könnten funktionelle Vorrichtungen wie Hände und Arme anpassen, erläutert Antonina Kumka. Sie ist die Gründerin der Wohltätigkeitsorganisation Protez Hub, die mit 79 prothetischen Kliniken im ganzen Land zusammenarbeitet. Künstliche Gliedmaßen wie Ellbogen seien sehr gefragt und manche Menschen müssten bis zu sechs Monate auf ihre Versorgung warten, ergänzt Kumka. Mindestens 100 Patienten seien bisher zwar im Ausland versorgt worden. Das sei jedoch nicht ideal, da die Patienten eine langfristige Nachsorge benötigten.

Die deutsche Firma Ottobock hat daher ein Schulungsprogramm gestartet, in dem ukrainische Techniker und Physiotherapeuten in Deutschland weitergebildet werden. Auch eine Container-Werkstatt wurde in die Ukraine gesendet. Ukrainische Unternehmen wie der Prothesenhersteller Tellus würden gerne expandieren, berichtet Oleksandra Kazarian, Geschäftsführerin der Ortonet-Vereinigung für prothetische und orthopädische Unternehmen in der Ukraine. Die Zahl der Behandlungen in drei Kliniken von Tellus sei im vergangenen Jahr um 20 Prozent gestiegen. Für 2023 wird mit einem weiteren Anstieg um etwa ein Drittel gerechnet. Doch die Unsicherheit sei groß, wo neue Kliniken eröffnet werden könnten. "Wo ist ein sicherer Ort?", fragt Kazarian. "Das weiß man nie."

(Bericht von Natalie Grover, Stefaniia Bern und Mike Collett-White und Janina Käppel, redigiert von Patricia Weiß. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com)

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