Börsenweisheit: Politische Börsen haben kurze Beine

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Der schwelende Handelskrieg zwischen den USA und China, der Haushaltsstreit Italiens mit der Europäischen Union (EU), der nahende Brexit – angesichts so vieler Konflikte wundert es kaum, dass die Stimmung an den Märkten derzeit ziemlich schlecht ist. An eine Jahresendrally glaubt nach dem jüngsten Kursrutsch kaum noch jemand. Zu viel Unsicherheit, zu viele Krisenherde und wenig Aussicht auf baldige Besserung verderben den Investoren gewaltig die Laune. Und das nun schon seit Wochen. Dabei lautet eine alte Börsenweisheit: „Politische Börsen haben kurze Beine.“ Übersetzt heißt das so viel wie: Politische Ereignisse beeinflussen die Börsenkurse nur kurzfristig, langfristig zählen harte Fakten wie Unternehmensergebnisse oder das Wirtschaftswachstum.

Doch in den vergangenen Wochen und Monaten waren die Börsen politisch wie selten und ihre sprichwörtlichen „Beine“ ziemlich lang. Stimmt die alte Weisheit vielleicht gar nicht mehr? Doch. Experten können dem klugen Spruch auch heute noch einiges abgewinnen. „Die vergangenen Jahrzehnte haben den Anlegern zur genüge Anschauungsmaterial gegeben, dass es grundsätzlich ratsam ist, als Investor politische Risiken deutlich tiefer zu hängen, als die Schlagzeilen vermuten lassen“, sagt Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege von J.P. Morgan Asset Management. Er verweist auf die politischen Krisen der vergangenen Jahre: Griechenland, Nordkorea, Ukraine und Syrien. „Trotz dieser Krisen haben die Aktienmärkte nach einer jeweils kurzen Phase der Verunsicherung ihre Aufwärtsbewegung fortgesetzt“, so Galler.

Die meisten politischen Krisen werden in ihrer Wirkung auf die Aktienmärkte überschätzt, weil die Investoren den langfristigen Negativeffekt auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu hoch einschätzen und die Fähigkeit der Unternehmen unterschätzen, sich an die schlechteren Rahmenbedingungen anzupassen und durch Restrukturierungen teilweise zu kompensieren. „Nach unseren Schätzungen dürften Gewinnwachstum und Dividenden auf Sicht von zehn Jahren rund 80 Prozent der Wertentwicklung definieren“, sagt Galler. Entsprechend werden aus dieser Perspektive politische Risiken erst dann gefährlich für Investoren, wenn sie nachhaltig die Gewinnaussichten der Unternehmen schmälern. Das können beispielsweise Steuerhöhungen für Unternehmen, verschärfte Regulierung, Eingriffe in die Eigentumsrechte oder im schlimmsten Fall kriegerische Konflikte sein. Dann werden die Beine politischer Börsen deutlich länger. Auch Ulrich Stephan ist überzeugt, dass politische Börsen grundsätzlich kurze Beine haben, mittel- und langfristig aber die wirtschaftlichen Entwicklungen und damit die Gewinnperspektiven der Unternehmen dominieren. „Wahlergebnisse sind der Klassiker für die Weisheit: Kurz nach wichtigen Wahlen reagiert die Börse manchmal heftig, bevor die Märkte zur Tagesordnung übergehen“, sagt der Chefanlagestratege der Deutschen Bank.

Nach dem überraschenden Wahlsieg von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl im November 2016 hatte das nur Stunden gedauert. Reagierten die Märkte erst mit einem Schock auf das Wahlergebnis, beruhigte sich die Lage im Laufe des Handelstages deutlich und die anfänglichen Verluste wurden wett gemacht. Nicht die einzige Wahl in jüngster Zeit, die für kurzfristige Turbulenzen sorgte. Lars Reiner, Gründer der digitalen Vermögensverwaltung Ginmon, erinnert an die Abstimmung über den EU-Austritt Großbritanniens im Juni 2016. Monatelang hatte die Brexit-Entscheidung die Märkte in Atem gehalten. Das „Ja“ der Briten löste schließlich einen heftigen Kursrutsch aus. „Rückblickend hatte der Dax zwar tatsächlich innerhalb weniger Tage zehn Prozent Verlust hinnehmen müssen, erholte sich aber innerhalb von einem Monat fast gänzlich“, sagt Reiner. Wer in solchen Zeiten übereilt sein Portfolio leer räumt, handelt nicht nur zyklisch, sondern häufig auch unüberlegt. „Denn in den meisten Fällen sind es Emotionen wie Angst, die dieser Entscheidung zugrunde liegen und wir wissen alle, dass Angst kein guter Ratgeber ist“, sagt der Anlageexperte. Er kann der alten Börsenweisheit deshalb auch sehr viel abgewinnen, vor allem langfristig orientierte Anleger sollten sich den Spruch deshalb zu Herzen nehmen.

Die Experten sind sich einig: Die alte Weisheit gilt auch heute noch. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Manchmal können politische Börsen nämlich auch verdammt lange Beine haben und der Handelsstreit zwischen den USA und China könnte solch ein Fall sein. „Der Handelskonflikt stellt ein großes Risiko für internationale Wertschöpfungsketten dar, die über Jahrzehnte in einer multilateralen Weltordnung aufgebaut wurden“, warnt Stephan. „Jetzt werden das Thema ‚Freihandel und positive Wachstumseffekte‘ von einigen prominenten Politikern in Frage gestellt. Erst ein Kompromiss zwischen den USA und China wird diese politische Börse beenden.“ Es gebe nach dem G20-Gipfel Buenos Aires erste Anzeichen dafür.

Erste Anzeichen, aber keine nachhaltige Einigung. Der Konflikt wird Anleger weiter in Atem halten. „Dass die beiden Staatspräsidenten auf dem G20-Gipfel einen 90-tägigen Stopp von weiteren Zollerhöhungen beschlossen haben, ändert daran nichts“, sagt Nermin Aliti, Leiter Fonds Advisery bei Laureus Privat Finanz. „Sollte nicht spätestens nach Ablauf der 90 Tage eine finale Einigung unter Dach und Fach sein, könnte der Handelskonflikt auch wieder an Fahrt gewinnen.“ Und das dürfte die Märkte dann weiter belasten, je nach Ausgang des Streits sogar sehr nachhaltig.

Fazit: Politische Börsen haben kurze Beine. Doch in den meisten Fällen haben diese nur kurzfristige Auswirkungen auf die Kapitalmärkte. Aber wenn die politischen Entscheidungen zu weitreichenden Einschnitten ins Wirtschaftsleben und die Geschäfte der Unternehmen führen, dann sind die Beine der politischen Börse eben doch sehr lang. Was bringt Anlegern dieses Wissen? Eine ganze Menge. „Ist der Anleger auf einen schnellen Gewinn aus ist, müssen politische Geschehnisse durchaus mit einkalkuliert werden“, sagt Ginmon-Gründer Reiner. „Wer jedoch einen langfristiger Vermögensaufbau anstrebt, darf sich von kurzfristigen Geschehnissen nicht so schnell aus dem Konzept bringen lassen.“ Voraussetzung ist allerdings ein weltweit diversifiziertes Portfolio. Mitunter können Anleger sogar profitieren, wenn sie die Nerven dazu haben. „Politische Börsen weisen in der Regel hohe Schwankungen auf, wobei die Tendenz unter dem Strich eher nach unten gerichtet ist“, sagt Laureus-Experte Aliti. „Sollte sich im Verlauf dieser Korrektur allerdings an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nichts Gravierendes geändert haben, dann könnten solche Phasen zum Einstieg oder Zukauf genutzt werden.“

Einig sind sich die Experten auch, dass politische Börsen Anleger auch im Jahr 2019 umtreiben werden. Brexit, italiensicher Haushaltsstreit und der schwelende Handelskonflikt werden für die Börsen auch in den kommenden Monaten Quellen von Verunsicherung und Volatilität sein. „Anleger im Euroraum sollten aber dennoch bedenken, dass trotz kurzfristiger Risiken die langfristigen Ertragsperspektiven für die Aktien weiterhin deutlich besser sind als für die vermeintlich sicheren Anlagen“, beruhigt JP-Morgan-Experte Galler. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit, auch wenn die Börsen mal wieder besonders politisch sind.

Von Jessica Schwarzer

Bild: Peshkova / Shutterstock.com

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