Stefan Riße: Viele Geschäftsideen gehen auf, viele Börsenwetten nicht
Ab Mitte der 1990er setzte sich das Internet langsam als Massenmedium durch. Die älteren unter den Lesern werden sich noch an die sehr populäre Kampagne erinnern, in der Boris Becker den kurzen Satz sagte: „Ich bin drin!“ Damals allerdings in einem ganz anderen Sinne gemeint als heute, wo der einstige Tennisstar in einem Londoner Gefängnis einsitzt. Er meinte damit, er sei im Internet und bewarb den entsprechenden Zugang von AOL. Zugleich entwickelte man den Mobilfunk mit dem UMTS-Standard so weiter, dass man zukünftig auch Daten größerer Menge würde mobil übertragen können und Handys nicht nur zum Telefonieren, sondern auch zum Surfen im Internet und zum Versenden von E-Mails würde nutzen können. Auch die Medienlandschaft sollte sich – so die damalige Vision – grundlegend verändern. „TMT“ lautete die Abkürzung für Technologie, Medien und Telekommunikation. Kurzum, man war überzeugt davon, dass das Internet die Welt grundlegend verändern würde. Nachrichten würde man nicht mehr aus der Zeitung, sondern aus dem Internet erfahren und einkaufen würde man zukünftig über Online-Händler und nicht mehr im Kaufhaus. Heute über 20 Jahre später, muss man sagen, dass die Visionäre voll und ganz recht behielten. Fraglos hat sich die Mediennutzung fundamental verändert, bestellen wir heute extrem viel online und das Smartphone, dass dann später kam und die Internetnutzung komfortabel auch auf kleinen mobilen Geräten erlaubte, hat diesbezüglich ebenso unser Leben grundlegend verändert.
Viele Unternehmen scheiterten
Wer die beschriebene Vision damals hatte, dem kann man durchaus gratulieren und sagen: richtig vorausgesagt. Doch viele, die hier richtig lagen, scheiterten dennoch an der Börse mit den entsprechenden Aktien. Denn natürlich wurde damals auch wild mit den sogenannten TMT-Aktien auf diese Vision spekuliert. In Deutschland wurde extra für Unternehmen dieser Branche ein neues Börsensegment namens „Neuer Markt“ geschaffen. Doch längst nicht alle Unternehmen waren am Ende erfolgreich. Manche hatten nicht die richtige Technologie, andere wurden vom jeweiligen Platzhirsch verdrängt. Und nicht nur das. Selbst die Unternehmen, die sich am Ende durchsetzten, erfüllten nicht die Erwartungen in Bezug auf die Umsatz- und Gewinnentwicklung in der Geschwindigkeit, die notwendig gewesen wäre, um die damaligen Bewertungen zu rechtfertigen. Und so mussten selbst die Überlebenden, zu denen heute auch einige der großen Tech-Riesen der USA gehören, zunächst empfindliche Kursverluste hinnehmen. Der „Neue Markt“ in Deutschland verschwand wieder, nachdem sein Index um 97 Prozent abgeschmiert war.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber reimt sich
Was wir vor gut 20 Jahren erlebt haben, das spielte sich in Teilen auch in der Corona-Pandemie ab. So wie Internetversender wie Amazon damals hochgejubelt wurden, hätte die Menschheit im Grunde mehr oder minder von einem Tag auf den anderen den stationären Handel ignorieren und nur noch online einkaufen müssen. Dabei war die Annahme, dass E-Commerce dem stationären Handel Marktanteile abjagen würde, absolut richtig. Es dauerte nur eben doch etwas länger. So wuchs E-Commerce durchschnittlich um rund zehn Prozent pro Jahr, während der stationäre Einzelhandel mehr oder minder stagnierte. Aber da man von einem niedrigen Niveau kam, macht der stationäre Handel auch heute noch über 80 Prozent der Einzelhandelsumsätze aus. In der Corona-Pandemie hat sich die Geschichte von damals vielleicht nicht wiederholt, aber sie reimt sich auf die Geschichte von damals. Denn man ging davon aus, dass das E-Commerce-Geschäft einen Wachstumssprung von fünf bis zehn Jahren hinlegen würde, der Versandhandel also innerhalb der Pandemie so schnell wachsen würde, wie bisher in fünf bis zehn Jahren. Internetversender wie die deutsche Zalando, About You, Mister Spex oder der kanadische Onlineshop-Anbieter Shopify gingen nur so durch die Decke. Doch auch hier stellt sich Ernüchterung ein. Der Gründer von Shopify, Tobias Lüdke – ein Deutscher, der in Kanada lebt –, räumt offenherzig ein, dass die Wette auf den großen Wachstumssprung nicht aufgegangen ist. Shopify entlässt daher auch über 1.000 der rund 10.000 Mitarbeiter, die sie haben. Und dennoch, auch wenn der Onlinehandel in diesem Jahr unerwartet einen deutlichen Einbruch erlebt, liegen die Umsätze noch immer weit über dem Jahr 2019. Und ganz sicher wird es wahrscheinlich vor allem unter den älteren Leuten, die notgedrungen in der Pandemie erstmals online bestellten, solche geben, die dies weiterhin tun und sonst nicht getan hätten. Will heißen, auch diese Vision war nicht vollkommen falsch, sie tritt nur eben auch nicht so schnell ein, wie es notwendig wäre, um die Höchstkurse dieser Unternehmen im Jahr 2021 zu rechtfertigen.
Value schlägt Momentum
Es lässt sich festhalten, dass viele Geschäftsideen aufgehen, viele Börsenwetten aber eben nicht. Und das ist ja auch nur logisch. Als man das Internet als Nutzer das erste Mal erlebte, gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass es ein ständiger Begleiter im Leben werden würde. Aber wer mit der logischen und richtigen Vision Geld verdienen will, der muss eben auch erkennen, welche Unternehmen am Ende die Gewinner einer Branche sein werden und wie schnell die Vision aufgehen wird. Nur wer hier eine realistische Einschätzung hat, kann abschätzen, wie die Wachstumsraten in der Zukunft aussehen und sich dementsprechend die Gewinne entwickeln. Nur wer auch hier richtig liegt, zahlt dann nicht zu viel für Aktien. Aber das ist ein hartes Stück Arbeit und manchmal aufgrund von zu großen Unsicherheitsfaktoren kaum möglich. Und so setzen Anleger häufig lieber auf das Momentum und kaufen Aktien, die schon stark gestiegen sind, in der Hoffnung, dass sich ein Dümmerer findet, der einen noch höheren Preis bezahlt. Das eben ist dann das Gegenteil von Value-Investing. Kurzfristig können solche Anleger viel besser abschneiden. Wer auf Tesla in den letzten Jahren gewettet hat, gehörte zu diesen Gewinnern, langfristig ist eine solche Strategie aber nicht vielversprechend, denn irgendwann wird man derjenige sein, der keinen Dümmeren mehr findet.
Die Aktien mancher Internetversender sind in diesem Jahr jedoch so stark zurückgekommen, dass sie zumindest einen Blick aus der Perspektive des Value-Investors wert sind.